Predigt von Bernd Kuschnerus zum Karfreitag 2024

"Das Kreuz ist ein Zeichen der furchtbaren Gewalt, die Menschen anderen Menschen antun."

Liebe Gemeinde,

am Karfreitag denken wir an den Tod Jesu Christi. Wir blicken auf das Kreuz.  Das Kreuz ist ein Zeichen der furchtbaren Gewalt, die Menschen anderen Menschen antun. Mit dem Kreuz treten auch die unzähligen Menschen vor unsere Augen, die heute unter Gewalt leiden.  Ich denke an die vielen, die in täglicher Angst vor Raketenangriffen leben, an die Verschleppten und Gefolterten, die in Tunneln gefangenen, Menschen, die verfolgt und unterdrückt werden. Auch bei uns leben viele inzwischen wieder in Angst, weil auf unseren Straßen wieder antisemitische Parolen laut werden. Viele haben große Sorgen, weil rechtsradikale Gruppen schon planen, wie sie wieder Menschen in Deutschland entrechten und vertreiben können.

Man könnte stumm werden angesichts der Sorgen und des vielen unermesslichen Leids. So wie das Kreuz, dieses Folterinstrument, selbst nicht spricht. Jesus schreit im Sterben laut auf und dann verstummt er. Keine Stimme kommt vom Himmel. Das Entsetzen über die Grausamkeit macht Jesu Angehörige sprachlos. 

Doch Paulus, dem wir den heutigen Predigttext verdanken, geht nicht den Weg des Schweigens. Im Gegenteil. Er stellt das "Wort vom Kreuz" in die Mitte: Der Gekreuzigte ist nicht nur ein weiteres von unzähligen Gewaltopfern. Das ist er auch. Doch er ist zugleich mehr. In ihm begegnet uns Gott.  Das Wort vom Kreuz ist für Paulus der Kern einer Hoffnungsbotschaft.  Es kann Hoffnung schenken, gerade weil es an der schrecklichen Wirklichkeit unserer Welt nicht vorbei geht. In seinem ersten Brief an die Gemeinde in Korinth, Kapitel 1,18, schreibt Paulus:

Das Wort vom Kreuz erscheint denen, die verloren gehen, als eine Dummheit.
Aber wir, die gerettet werden, erfahren sie als Kraft Gottes. (1. Kor 1,18)

Das Wort vom Kreuz durchbricht die Friedhofsstille. Es sagt, dass der Tod Jesu etwas mit Gott zu tun hat -- mit Gott und darum auch mit uns. Gott ist auf der Seite der Menschen, die Gewalt erleiden. Mehr noch: Gott wird einer von ihnen. Das Wort vom Kreuz weckt unser Mitgefühl für Menschen, die von Leid und Gewalt betroffen sind. Es ruft uns an die Seite derer, die unter dem Kreuz trauern. Das Wort vom Kreuz spricht uns jenseits unserer religiösen, politischen, sozialen und geschlechtlichen Herkunft an und weckt eine zutiefst menschliche Solidarität.  Einfach, weil wir Menschen sind, müssen wir zusammenhalten. Und es ermahnt uns, nicht das Leid der einen gegen das Leid der anderen auszuspielen. Das Wort vom Kreuz macht Mut, gegen Hass und menschliche Zerstörungswut anzugehen.

Denn was an Gott als dumm erscheint, ist weiser als die Menschen.
Und was an Gott schwach erscheint,  ist stärker als die Menschen. (1. Kor 1.25)

schreibt Paulus.

Die Schwäche des Gottes, der sich am Kreuz zu erkennen gibt, bewirkt eine überraschende Kraft, die unter den Schwachen wirksam ist (2Kor 12,9). Darum geht es Paulus offenbar, wenn es um die Kirche geht. „Was der Welt schwach erscheint, das hat Gott ausgewählt, um ihre Stärke zu beschämen.“, schreibt der Apostel (1Kor 1,27).

Auch unsere Kirche ist kein gewaltfreier Sonderraum. Wir wissen nicht erst seit der ForuM-Studie über sexualisierte Gewalt, dass  Gewalt auch in der Kirche eine Realität ist. Jahrzehntelang hat die Kirche an dieser Stelle versagt und Fehler gemacht. Wir müssen alles dafür tun, um das Risiko zu mindern, dass Menschen in der Kirche Gewalt ausgesetzt sind. Darum bin ich froh, dass unser Kirchenparlament vor zwei Wochen weitere Schritte zur Prävention, Intervention und Aufarbeitung beschlossen hat. Und dass dabei auf die Empfehlungen des Beteiligungsforums, also auch auf die Stimme von Betroffenen, gehört werden soll.

Das Kreuz kann uns daran erinnern, dass auch wir in der Kirche der Wirklichkeit von Gewalt nicht ausweichen können. Als dumm muss das Wort vom Kreuz erscheinen, wenn   es um eine Spiritualität geht, die die Schattenseiten unseres Lebens ausblendet und verharmlost. Auch die dunklen Seiten, die wir vielleicht in uns selbst tragen.  

Doch Paulus will mit dem Wort vom Kreuz eine heilsame Enttäuschung bewirken. Es zeigt, wie nötig es ist, dass wir uns ohne falsche Autoritätsansprüche und vermeintliche moralische Überlegenheit verantworten. “Wo sind jetzt die Weisen, wo die Schriftgelehrten, wo die wortgewaltigen Redner unserer Zeit?“ (1 Korinther 1,20) So wie Paulus diese Frage einst an die Gemeinde in Korinth richtete, so können wir uns als Kirche heute von ihm befragen lassen.

Die Wege, sich über sich selbst zu täuschen sind vielfältig. Diese Selbsttäuschung zeigt sich etwa, wenn wir in der Evangelischen Kirche meinen, wir seien besser als die anderen, bei uns gäbe es keine Machtgefälle, alle begegneten sich auf Augenhöhe.  Mit einer solchen Einstellung belügen wir uns selbst. Durch diese Selbstidealisierung ist Menschen in der Kirche Schaden zugefügt worden. So berichten es laut der ForuM-Studie von Gewalt Betroffene. [1]

„Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt als Dummheit entlarvt?“, fragt Paulus (1 Kor 1,20). Es ist klar, welche Antwort er erwartet: Es ist das schmerzhafte Eingeständnis, dass wir mit unserer eigenen Weisheit schnell ans Ende kommen (1Kor 1,19f). Das einzusehen, kann eine harte Landung auf dem Boden der Realität bedeuten, sowohl persönlich als auch als Kirche.

Das Wort vom Kreuz verlangt eine Kirche, die nicht selbstgefällig daherkommt, die sich nicht selbst verkündet. Sondern in allem, was sie tut und sagt, auf Jesus Christus zeigt.  Dazu gehört auch, eigene Fehler und Schuld einzugestehen und gleichzeitig  zu wissen, dass Schuld dadurch nicht verschwindet.  Das Leid, das wir anderen bereitet oder zugelassen haben, lässt sich nicht ungeschehen machen. 

Wie kann das Wort vom Kreuz für uns als Kirche zu einer Kraft Gottes werden, von der Paulus spricht? Ein Beispiel dafür ist für mich die Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste. Sie reagierte auf das   Versagen der Evangelischen Kirche in der NS-Zeit und auf den jahrhundertelang in der Kirche verbreiteten Antijudaismus und Antisemitismus.

Im  Jahr 1958 wurde die Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste  gegründet. Maßgeblich war das damalige Ratsmitglied der EKD Lothar Kreyssig.  Die Aktion Sühnezeichen begann mit dem Aufruf, die Schuld für die NS-Verbrechen anzuerkennen. Das war damals auch in der Kirche keineswegs selbstverständlich und traf auf Widerstand, Selbstrechtfertigung und Hass.  Mit der Aktion Sühnezeichen sollte  eine konkrete Solidarität mit den NS-Verfolgten gezeigt  werden. „Wir Deutschen“, heißt es in dem Aufruf, „haben den Zweiten Weltkrieg begonnen und damit mehr als andere unmessbares Leiden der Menschheit verschuldet. Deutsche haben in frevlerischem Aufstand gegen Gott Millionen Juden umgebracht. Wer von uns Überlebenden das nicht gewollt hat, hat nicht genug getan, es zu verhindern.“ Das Eingeständnis der Schuld führt nicht zur Resignation.  Sondern es führt zu einer Bitte an „die Völker, die von uns Gewalt erlitten haben, dass sie uns erlauben, mit unseren Händen und mit unseren Mitteln in ihrem Land etwas Gutes zu tun.“ [2]

Freiwillige  von Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste unterstützen seitdem Überlebende von nationalsozialistischen Konzentrationslagern und Zwangsarbeit.  Sie begleiten psychisch Kranke, Obdachlose, Flüchtlinge oder Menschen mit besonderem Förderungsbedarf. Sie kümmern sich um Gedenkstätten und setzen sich gegen Rassismus und Antisemitismus ein. Viele junge Menschen sammeln in den Freiwilligendiensten Erfahrungen, die ihr Leben prägen.

Wir müssen die Vergangenheit kennen, um aus ihr die Lehre zu ziehen.  Darum sind die Erinnerung und Aufarbeitung vergangenen Unrechts so notwendig. Sowohl wenn es um die Verbrechen an jüdischen Menschen, an Sinti und Roma und vielen anderen unter der Naziherrschaft  geht, oder um Demütigungen von Verschickungskindern  in der Nachkriegszeit oder um sexualisierte Gewalt. 

Eine Lehre aus dem Versagen der Kirche in der NS-Zeit lautet:  "Völkisch-nationale Ideologien und menschenverachtende Äußerungen sind mit den Grundsätzen unseres Glaubens unvereinbar."[3] So bringen die evangelische und katholische Kirche ihre Folgerungen für die Gegenwart auf den Punkt.

Aus der Vergangenheit zu lernen, bedeutet, dass wir uns für Demokratie und Menschenrechte einsetzen. Wir müssen überall gegen Gewalt eintreten, in der Gesellschaft und bei uns selbst. Es ist wichtig, dass wir gemeinsam mit anderen gegen Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit aufstehen. Dass wir uns dafür einsetzen, dass die Menschenwürde geachtet wird, unabhängig davon, woher eine Person kommt, welcher Religion oder Überzeugung sie zugehört, welches Geschlecht sie hat oder wie sie sich sexuell orientiert.

 Wir  können dabei  nicht selbstgerecht auftreten. Wir wissen um unsere eigenen Gefährdungen. Aber -- das ist die Hoffnung -- wir können uns mit neuer Freiheit zum Guten auf den Weg machen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserm Herrn. Amen

 

[1]https://www.forum-studie.de/wp-content/uploads/2024/01/Zusammenfassung_ForuM.pdf; vgl. S4.

[2]asf-ev.de/ueber-uns/leitsaetze-und-geschichte/

[3]www.ekd.de/voelkischer-nationalismus-und-christentum-sind-unvereinbar-82915.htm