22. November 2024
21. November 2024
13. November 2024
Predigt von Bernd Kuschnerus zum Reformationstag 2023
Pastor Dr. Bernd Kuschnerus, Schriftführer in der Bremischen Evangelischen Kirche, predigt zum Reformationstag 2023 im Festgottesdienst im Bremer St. Petri Dom .
Der Friede unseres Herrn Jesus Christus sei mit Euch.
Liebe Gemeinde,
„Die Messe in h-Moll weist über alle möglichen Grenzen hinaus, ohne sie niederzureißen," schreibt Tobias Gravenhorst über diese wunderbare Musik, die heute hier zur Aufführung kommt.
Weite über alle möglichen Grenzen hinaus, ohne diese Grenzen zu zerstören -- diese Botschaft, ist für mich das Evangelium dieser Tage. Denn es geht heute darum Grenzen der anderen zu achten und auch die eigenen Grenzen.
Und zugleich brauchen wir die Weite, die uns über die eigenen Beschränkungen hinausführt.
Wir erleben in unserer Welt gerade das Gegenteil. Grenzen werden mit terroristischer und militärischer Gewalt überschritten. Engherzige Ideologien scheinen zu triumphieren. Die Überfälle auf Nachbarländer und Kriege der Welt nehmen zu, von Odessa über Bergkarabach bis Tel Aviv.
Und an vielen Orten der Welt flammt der Antisemitismus auf. Das ist unerträglich.
Der entsetzliche Überfall der Hamas auf Israel trifft Menschen mit brutaler Gewalt -- in Israel und im Gazastreifen. Unschuldige Zivilisten werden verschleppt und getötet.Mutige Friedensbemühungen zunichte gemacht. Viele, auch bei uns, fürchten um ihre Angehörigen und Freunde.
Und an vielen Orten der Welt flammt der Antisemitismus auf. Das ist unerträglich.
Zweitens, bei uns wird in diesen Tagen wieder intensiv über Grenzfragen diskutiert. Wie können Menschen bei uns Schutz vor Verfolgung, Krieg und Dürre finden, ohne dass wir die Kontrolle über die Grenzen unseres Landes verlieren?
Mich bedrückt, dass Neid und Missgunst geschürt und Chaos-Geschichten verbreitet werden. Wenn von Flüchtlingsströmen die Rede ist, sollten wir uns klar machen: Es geht immer um Menschen.
Wie wäre es, sachlich über die Probleme zu sprechen,
anstatt unsere Gesellschaft zu ängstigen und zu spalten?
Wer glaubt wirklich, dass Menschen ihr Zuhause verlassen, sich den Gefahren der Wüste und des Meeres aussetzen, um bei uns eine Zahnbehandlung zu bekommen? Wie wäre es, sachlich über die Probleme von Kommunen zu sprechen, anstatt unsere Gesellschaft zu ängstigen und zu spalten?
Schließlich ein drittes Thema:
Wir sind mit unserer Lebensweise und dem Verbrauch unsere Natur an die Grenzen des Wachstums gekommen. Nun muss es darum gehen,wie wir unseren Lebensraum Erde bewahren und einen fairen Weg dafür finden, den möglichst viele mitgehen können. Die Augen vor dem Klimawandel und seinen Folgen zu verschließen, hilft niemanden.
Ich verstehe, dass sich viele angesichts der zahlreichen Krisen überfordert fühlen. Wer wünscht sich nicht zuweilen,es möge doch alle so sein wie früher. Viele spüren persönlich ihre Grenzen, die Grenzen ihrer Belastbarkeit, ihrer Hoffnung, ihrer Geduld.
Wie wohltuend ist es dann, wenn ich eine Weite finden kann, die mich nicht ängstigt und verstört, eine innere Heimat, die mich nicht verschließt und von anderen abschottet. Ich finde im Evangelium dieses offene Zuhause. Und die Musik kann für mich dieses Zuhause aufschließen.
Tobias Gravenhorst schreibt über diesen Schlüssel: "Johann Sebastian Bach überschritt mit seiner Musik die Grenzen der bürgerlichen Enge,der konfessionellen Bindung […]. Heute fasziniert uns gerade dieses Über-die-Grenzen-Hinausweisen. Dabei geht es längst nicht mehr um die Grenzen zwischen evangelisch und katholisch, sondern um die Grenzen zwischen Glauben und Nichtglauben."
Kein Geringerer als der Philosoph Friedrich Nietzsche bestätigt diese These: "Wer das Christentum völlig verlernt hat,der hört es hier wirklich wie ein Evangelium!" Offenbar gelingt es Bach dem wortgewaltigen Religionskritiker das Evangelium nahe zu bringen. Nietzsches Äußerungen sagen viel über Bach und seine Musik. In ihr finden die unterschiedlichsten Menschen Sinn und Geschmack für das Unendliche.
Das Evangelium schafft Freiheit. Es vereinnahmt nicht.
Sie sagen auch etwas über das Evangelium: Das Evangelium sucht sich seinen Weg zu den Menschen. Unabhängig von ihrer Religiosität oder A-Religiosität oder ihres kulturellen Hintergrundes. Das Evangelium schafft Freiheit. Es vereinnahmt nicht.
„Einen andern Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus“, schreibt der Apostel Paulus im 1. Brief an die Korinther 3,11. Wenn ich diesen Grund unter den Füßen habe, dann kann ich eine große Herzensweite und Toleranz gewinnen. Denn Gott hat eine Grenze zu den Menschen überschritten, ohne sie zu zerstören. Gott ist Mensch geworden, nicht damit wir Menschen uns wie Götter aufführen, sondern damit wir menschlich miteinander und fürsorglich mit der Schöpfung umgehen.
Keine Konfession, keine Religion legt diesen Grund. Das Grundlegende ist schon geschehen.Wenn wir uns selbst für diesen Grund halten, haben wir schon verloren.
Der Paulus zog daraus im Brief an die Galater eine grenzüberscheitende Konsequenz:
"Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch freier Mensch,hier ist nicht Mann noch Frau." (Brief an die Galater 3,28).
Alle sind, wer und was sie sind. Aber religiöse, soziale und geschlechtliche Identitäten zählen nicht vor Gott. Sie zählen nicht für die Nächstenliebe. Denn es sind menschliche Kategorien. Es sind keine göttlichen Maßstäbe.
Gott zählt für Paulus. Der Gott, der allen Menschen zum Nächsten geworden ist. Alle sind Gottes Kinder.
Ich muss mich nicht ängstlich in meine Identität als evangelischer Christenmensch verschließen, sondern ich bin frei, den anderen zu begegnen. Ich habe meine Sprache, meine Religion, meine Kultur. So wie andere ihre Sprache, Religion oder Kultur haben. Ich kann die Grenze meines Gegenübers achten, auch wenn es anders ist als ich. Der andere / die andere muss nicht so sein wie ich. Und vielleicht finden wir etwas Gemeinsames, das unsere eigenen Grenzen überschreitet, ohne sie zu zerstören.
So wie in der Musik von Bach.
Ich bin überzeugt, dass diese Spiritualität dem Frieden dient. Es ist sind Zeichen der Hoffnung, wenn wir Spuren von ihr entdecken.
Ich kann mich nicht über die anderen stellen.
So als wäre ich nur Zuschauer im Weltgeschehen.
Und als könnte ich vom bequemen Sofa aus urteilen.
Sondern ich stehe selbst vor Gott, ich selbst muss mich bewegen.
Bei einem Jerusalembesuch fand meine Frau in einer Arabisch-christlichen Kirche an einer Pinwand folgendes Gebet:
"Bete nicht für Araber oder Juden, für Palästinenser oder Israelis. Bete lieber für uns, dass wir sie in unseren Gebeten nicht teilen, sondern beide in unseren Herzen zusammenhalten."
Aus diesem Gebet lerne ich etwas für mein Beten und Reden. Ich kann mich nicht über die anderen stellen. So als wäre ich nur Zuschauer im Weltgeschehen. Und als könnte ich vom bequemen Sofa aus urteilen. Sondern ich stehe selbst vor Gott, ich selbst muss mich bewegen.
Liebe Gemeinde, viele von uns sind in diesen Tagen unsicher und bedrückt. Lassen wir unsere Kirchen und Gemeindehäuser Gemeinden Orte sein, an denen unterschiedliche Menschen ihrer Angst und ihrer Ratlosigkeit Ausdruck verleihen und beten können. Bleiben wir im Gespräch, auch wenn wir es mit Menschen zu tun haben, die andere Auffassungen haben, anders reden und leben als wir selbst. Lasst uns dem Hass entgegenwirken.
Wir können die Weite des Evangeliums nicht herbeidiskutieren. Aber wir können uns seiner Erfahrung aussetzen. In unseren Gottesdiensten, dem gemeinsamen Singen und Beten können wir einen Raum finden,der die Weite unserer Herzen und Achtung vor den Grenzen unserer Nächsten verbindet. Wir sind miteinander verbunden, gleich woher wir kommen, was wir glauben oder nicht glauben und an welchem Punkt unserer Lebensreise wir uns befinden.
Vielleicht können wir in der Musik einen Geschmack von göttlicher Weite und Bewahrung bekommen. Das möge Gott uns schenken.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Pastor Dr. Bernd Kuschnerus ist seit 2019 Schriftführer in der Bremischen Evangelischen Kirche