Donnerstag, 22. August 2024

Geistlicher Impuls: Herbst-Blatt

Herbst-Blatt

Jedes Jahr erwischt es mich wieder: Das erste verfärbte Blatt. Mal erblicke ich es am Ende einer Brombeerranke auf einer Radtour. Mal ist es ein rötlicher Schimmer auf einem Busch. Mal ist es ein gelbes Birkenblatt, das auf den Weg geweht ist. Bei diesem Anblick zieht sich für einen Moment mein Herz zusammen und mich trifft der Gedanke: Es ist vorbei. Das Blatt zeigt deutlich, dass auch dieser Sommer ein Ende haben wird. Es wird vorbei sein mit langen Tagen, Hitze und Eiscreme. Plötzlich rieche ich Herbstduft und denke an meine Pullover im Schrank. 

Obwohl mir das erste verfärbte Blatt manchmal schon im August begegnet, überkommt mich für einen Moment Wehmut. Aber seltsamerweise auch: Erleichterung. Ich werde mich schon bald nicht mehr fragen müssen, ob ich den Sommer auch gut genug genutzt habe, ob ich genug Sonnenstunden getankt habe, trotz Sonnenallergie, ob ich oft genug schwimmen war oder weit genug gereist bin. Die Frage, ob die Sonnencreme noch reicht, kann ich bald gelassen beiseite tun. Ich muss mich nicht mehr um kurze Kleider kümmern. Und schon bald wird man sich nicht mehr rechtfertigen müssen, wenn man einfach drinnen ein Buch liest. 

Nach einem Sommer muss man vieles nicht mehr: Man muss keine Bräune mehr vorzeigen oder vortäuschen, man habe selbst gegrillt. Stattdessen ergibt sich ein neues Spielfeld mit anderen Aktivitäten – und mit warmem Tee, wenn man von draußen hereinkommt. 

Wenn etwas aufhört, ist Wehmut da. Und zugleich entsteht Platz für etwas Neues. 

Das Ereignis des ersten verfärbten Blattes hat übrigens ein natürliches Gegenstück: Das erste Schneeglöckchen im Januar. Auch dieser Anblick berührt mich in seiner Endgültigkeit jedes Jahr wieder: Der Winter wird einmal vorbei sein. Versprochen. Es wird Frühling werden. Und Sommer. 

Susanne Kayser