Denkanstoß

„Wenn dein Kind dich morgen fragt...“ (5. Mose 6,20)

In den Gemeinden, in denen ich als Pastorin tätig war, habe ich mit großer Freude mit Kindern gearbeitet. Weil mich die Fragen der Kinder so faszinieren. „Wo wohnt der liebe Gott?“ „Ist Gott größer als unser Haus?“ „Warum ist Pauls Mama jetzt tot?“ „Hast du auch manchmal Angst?“ Kinder fragen ungeniert, fordernd, spontan. 

So viel geht ihnen durch den Kopf, dass wir Erwachsenen manchmal Mühe haben, mitzuhalten. Oder wir vertrösten sie auf später „jetzt nicht“ oder auf eine andere Person „Frag mal die Pastorin, die weiß das bestimmt.“ Schade, denn jede Frage ist eine Chance. Eine Chance für mich, wieder einmal über die zentralen Fragen meines Glaubens und Lebens nachzudenken. Eine Chance für das Kind, weil durch das Fragen neue Türen aufgestoßen werden und der Horizont sich erweitert. Und eine Chance für uns beide, weil ein Dialog entsteht. Im gemeinsamen Fragen und Antworten wird Wissen und Glauben ausgetauscht. Warum nicht die Frage an das Kind zurückgeben? „Wie stellst du dir das vor?“ und dann staunen, welche kreativen Antworten Kinder haben.

Der jüdische Schriftsteller Elie Wiesel erzählt, sein Vater habe ihn früher nach der Schule nie gefragt: „Was hast du heute gelernt?“ sondern: „Was hast du heute gefragt?“ Gerade die jüdische Religion und Geschichte wird von einer Kultur des Erzählens getragen. Zum Beispiel am Sederabend. Am Vorabend des Passahfestes, wenn die ganze Familie um einen festlich gedeckten Tisch zusammensitzt, wird die Textzeile aus 5. Mose 6 feierlich verlesen. „Wenn dein Kind dich morgen fragt“ ist dort Bestandteil eines der ältesten Glaubensbekenntnisse. Da wird gefragt nach dem Gott, der sein Volk aus der ägyptischen Gefangenschaft befreit hat, der neues Land geschenkt und der Mose die zehn Gebote für sein Volk mit auf den Weg gegeben hat. Und es wird der zentrale Glaubenssatz der jüdischen Religion genannt, das Schema Jisrael: „Höre Israel, unser Gott ist ein einziger. Und du sollst deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“

Dieses Kernstück jüdischer und auch christlicher Geschichte muss weitererzählt werden. Eine Generation muss der nächsten immer wieder klar machen: Von dort kommt ihr her und hier ist das Land, das euch versprochen ist. Und dies ist der Gott der Liebe und Gerechtigkeit, der mit euch auf dem Weg ist. Denn was nicht weitererzählt wird, gerät irgendwann in Vergessenheit

Das Lied „Wenn dein Kind dich morgen fragt“ haben wir nach der Melodie von Fritz Baltruweit an allen sieben Sonntagen der Sommerkirche St. Ansgarii / Unser Lieben Frauen gesungen. Die Anregung dazu kam von unserem Organisten Rolf Quandt. Es ist zum Deutschen Evangelischen Kirchentag 2005 in Hannover entstanden. Doch die hier gestellten Fragen sind fast 20 Jahre später noch genau so aktuell: Wie ist dein Lebenstraum, der dir zu Herzen geht? Wofür wollen wir leben? In welchem Lebensraum ist jemand, der dich hält? Mit welchem Lebensziel kannst du glaubwürdig sein? Warum können wir glauben? Wie sollen wir handeln? 

Lasst uns gemeinsam Antworten suchen, wenn dein Sohn, deine Tochter, dein Patenkind, dein Enkelkind, dein Nachbarskind dich morgen fragt. Morgen, nicht jetzt. Wir haben Zeit, über unsere Antworten nachzudenken.

Gesegnete Grüße
Pastorin Gesche Gröttrup